Gerichtsverhandlung
Laszlo Böszörmenyi
Richter
Angeklagter, wissen Sie, wie die Anklage gegen Sie lautet?
Angeklagter
Nein, Euer Ehren, ich weiß von keiner Schuld meinerseits.
Richter
Sie sind an einem blühenden Kirschbaum vorbeigegangen. Sie wurden für einen
Augenblick durch seine überirdische Schönheit angehalten. Sie haben sehr wohl
geahnt, dass Gottes Bote Sie in seiner Gestalt ansprechen will. Und was haben
Sie getan? Anstatt die Botschaft anzuhören, haben Sie in sich flüchtig
festgestellt: „Aha, ein blühender Kirschbaum“. Und das war noch nicht alles!
Obwohl Sie mit dieser dummen und banalen Feststellung diesen Augenblick, der
den Eintritt in Gottes Reich für Sie hätte eröffnen können, getötet haben, haben
Sie noch hinzugefügt: „Ei, wie schön!“ Sie haben mit diesem „wie schön“
großzügig auf die Schulter des gerade ermordeten göttlichen Augenblicks
geklopft. Dieser erbärmliche, kaltblütige Zynismus, schreit bis zum Himmel!
Darüber hinaus sind Sie dringend verdächtigt tausende, ja millionen von
anderen Augenblicken durch Ihre gierige und lusthungrige Aufmerksamkeit in
ähnlicher Weise getötet zu haben.
Bekennen Sie sich schuldig?
Angeklagter
Euer Ehren, ich bitte Sie zu bedenken, das ist doch meine Privatsache. Was
geht es das hohe Gericht an, ob ich meine göttlichen Augenblicke versäume oder
nicht?
Richter
Privatsache?! Ihr Zynismus kennt keine Grenzen! Ja, Sie haben den
Augenblick in der Tat zur Privatsache gemacht. Sie waren an der Grenze, an der sich
das Universum in der Gestalt eines blühenden Kirschbaumes aussprechen wollte.
Sie waren an der Grenze, etwas vom Geheimnis des Universums und von der
lebensnotwendigen Aufgabe, die Sie darin zu erfüllen hätten, zu begreifen. Sie
hätten sich durch diesen Augenblick in die zeitlose Ewigkeit erheben und Ihre Seele
in jene Leiter, an der „die Engel Gottes auf und niedersteigen“, verwandeln
können. Was haben Sie statt dessen gemacht? Sie haben scharfsinnig
festgestellt: „Ein Kirschbaum“. Und da Sie sich für einen guten und für die
Schönheit empfindsamen Menschen halten, haben Sie mit einem sentimentalem
Stöhnen hinzugefügt: „Wie schön“. Ja, Sie haben diesen kosmischen Augenblick
zur Privatsache, zu einer Leiche gemacht. Leichen kann man nicht mehr
ansprechen, mein Herr, die sind in der Tat „privat“. Nur mit den Lebendigen
kann man kommunizieren. Ihre Aufmerksamkeit hätte diesen Augenblick auch zum
ewigen Leben erwecken können. Aber nein, Sie haben ihn erbarmungslos getötet.
Angeklagter
Euer Ehren, Ihre Darstellung beeindruckt mich zutiefst, das muss ich
zugeben. Bitte bedenken Sie aber, dass mich dabei keinerlei böse Absicht
geleitet hat. Ich wollte den Augenblick nicht töten.
Richter
Ja, mit dieser faulen Ausrede habe ich gerechnet. Sie „wollten das gar
nicht“. Das weiß ich wohl. Das ist genau das Schlimme. Wer hat ja je etwas
Böses gewollt? Wenn es danach ginge, hätte nie etwas Böses passieren dürfen.
Stattdessen passiert fast nie etwas Gutes. Jeder Augenblick, den Sie nicht
liebevoll entgegennehmen, wird zum Bösen. „Nicht zu wollen“ genügt nicht, mein
Herr. Und das „Gute zu wollen“ noch weniger. Liebevoll und mit sanfter Geduld
abwarten – NUR das kann das Leben der Augenblicke retten.
Angeklagter
Erlauben Sie mir trotzdem eine letzte Verteidigung: Es mag alles so
geschehen sein, wie Sie das schildern. Trotzdem: Warum soll gerade ich dafür zur Verantwortung gezogen werden? Sind
die anderen besser? Machen Sie das anders?
Richter
Angeklagter, diese „Verteidigung“ ist dermaßen niederträchtig, dass es
sogar demütigend ist, darauf eine Antwort zu geben. Wird eine Übeltat dadurch
kleiner, dass viele ähnliche Übeltaten begehen? Was für eine teuflische Logik steckt
dahinter? Haben Sie Ihren göttlichen Augenblick deshalb weniger getötet, weil andere
das auch tun? Gewiss, Liebe und Weisheit werden durch die Teilung nicht weniger
sondern mehr. Soll daraus folgen, dass Bosheit und Dummheit durch die Vervielfachung
weniger werden? Mitnichten!
Angeklagter
Euer Ehren, ich habe die Anklage verstanden und bekenne mich schuldig. Wie
lautet das Urteil?
Richter
Verschonen Sie das hohe Gericht vor Ihren Tränen und albernen Fragen. Sie
müssten doch wissen, dass dieses Gericht keine Urteile fällt. Wie könnte es
auch? Einen Gefangenen kann man nicht noch einmal ins Gefängnis stecken. Sie
sind schon längst im Gefängnis Ihrer „festen Überzeugungen“ und banalen Süchte gefangen.
Sie liegen schon längst in Ketten, die Sie aus Ihren Gewohnheiten selbst
geschmiedet haben. Was für einen Sinn könnte es haben, Ihnen weitere Ketten
aufzuerlegen?
Angeklagter
Euer Ehren, was soll ich also tun?
Richter
Steh auf und geh endlich! Geh zurück zu Deinem Kirschbaum und warte ab, bis
Du angesprochen wirst. Nimm einen Zwirnfaden in die Hand, und lass ihn sich in
Deiner Seele aussprechen. Hör auf nach Erfolgen, nach Erlebnissen, nach
Bestätigungen zu jagen! Hör auf damit die Augenblicke weiter zu töten, stattdessen
lass sie in Dir geboren werden. Höre Deinen Mitmenschen zu, ohne ständig
dazwischenzureden. Richte Dir täglich Feste ein, in denen Gott dein eigenes
göttliches Wesen ansprechen kann und in denen Du ohne jämmerliche seelische
Stützen bestehen kannst. Hör auf zu leben wie ein Tier, nein, wie ein Automat.
Wach auf und lebe wie ein Mensch. Lebe endlich frei. In Licht und Liebe.
Angeklagter
Euer Ehren ...
Richter
Ja, ich weiß. Du willst sagen, dass Du das nicht kannst. Natürlich, das
wissen wir. Wir werden Dir helfen. Aber den ersten Schritt musst Du selber
machen. Der Kirschbaum wartet auf Dich. In ewiger Blüte