Das Bewusstsein als Ergebnis und
Triebfeder der kulturellen Evolution des Menschen
Bewusste Abwägungen und Willensentscheidungen, auch bewusste
Wahrnehmungen, Unterscheidungen, ja selbst das bewusste Erleben der eigenen
Identität sind in hohem Maß durch andere Personen beeinflussbar. Das gilt nicht
nur für Erwachsene, sondern in noch viel stärkerem Maß für Kinder. Hier, im
kindlichen Gehirn, werden die für bewusste Zustände aktivierten Metarepräsentanzen
nicht nur durch andere Menschen beeinflusst, sondern unter dem Einfluss der im
Zusammenleben mit anderen Menschen gemachten Erfahrungen herausgeformt. Um
diese komplexen Vernetzungen herauszubilden braucht jeder Mensch eine bestimmte
Sequenz und Qualität von Erfahrungen. Diese Erfahrungen können nur dann gemacht
werden, wenn er bereits als Kind von Anfang an Gelegenheit geboten bekommt, mit
den Objekten seiner Lebenswelt – und das sind in erster Linie höchst lebendige
Subjekte in Form von Eltern, Geschwistern, von Mitgliedern der eigenen Sippe,
der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft und letztlich des Kulturkreises,
in den ein Kind hineinwächst – in Beziehung zu treten, sich auszutauschen, sich
an andere Menschen anzuschließen oder sich von ihnen abzugrenzen, Wissen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten von anderen zu übernehmen, und dabei immer wieder
neue, eigene Erfahrungen zu machen. Damit wird auch verständlich, weshalb der
Grad an Bewusstheit oder die Bewusstseinsstufe, die ein Mensch entwickeln kann,
von dem Bewusstsein abhängig ist, das in der Welt der Erwachsenen herrscht, in
die er als Kind hineinwächst.
Aus dieser
Perspektive betrachtet erweist sich also die Fähigkeit von Menschen, bewusst zu
handeln, sich ihrer selbst bewusst zu werden, ihr Bewusstsein zu schärfen und
zu erweitern, als eine Kulturleistung. Der Ort, an dem das Bewusstsein
entsteht, wäre dann freilich nicht im Hirn, sondern in der Gesellschaft zu
suchen. Bewusstsein wäre dann auch nicht eine Fähigkeit, die automatisch
entsteht, weiter wächst und sich vom anfänglichen mythischen Bewusstsein über
das personale Ich-Bewusstsein bis hin zum transpersonalen oder transzendentalen
Bewusstsein entwickelt. Es könnte ebenso gut – wenn die transgenerationale
Weitergabe von Erfahrungen in einem bestimmten Kulturkreis behindert oder
gestört wird – wieder von bereits erreichten höheren Stufen auf die niederen
zurückfallen (Hüther 2008).
In gewisser Weise
lässt sich die Suche der Hirnforscher nach dem Ort im Hirn, wo das Bewusstsein
sitzt, mit der Suche nach jenem Ort vergleichen, wo die menschliche Sprache
entsteht. Zwar bilden sich bei jedem Kind, das in einer menschlichen
Gemeinschaft aufwächst, in der Menschen gelernt haben, sich verbal zu
verständigen (wenn es nicht taubstumm ist), die von den Hirnforschern
lokalisierbaren Sprachzentren aus. Aber die Fähigkeit zu Sprechen und Gesprochenes
zu verstehen, verdanken wir weniger der Tatsache, dass es in unserem Gehirn ein
von den Hirnforschern lokalisierbares und analysierbares Brocca-Areal
oder ein Wernicke-Zentrum gibt, sondern vielmehr dem Umstand, dass Eltern
normalerweise mit ihren Kindern sprechen. Je nachdem, wie viel und wie komplex
dieser verbale Austausch ist, werden auch die betreffenden Hirnregionen mehr
oder weniger komplex herausgeformt. Die Feststellung, dass die
durchschnittliche Dauer verbaler Kommunikation zwischen Eltern und ihren
Kindern in unserem Land inzwischen auf weniger als 10 Minuten pro Tag gesunken
ist, kann für die Ausformungen dieser Hirnregionen so wenig folgenlos geblieben
sein, wie das, was in diesen durchschnittlich 10 Minuten verbal ausgetauscht
wird, folgenlos für die Herausbildung derjenigen Strukturen im Gehirn dieser
nachwachsenden Generation bleiben wird, in denen das Bewusstsein im Gehirn
strukturell verankert wird.
Aus rein
biologischer Sicht wäre es allerdings auch keine allzu bedenkliche Entwicklung,
wenn den Menschen die Fähigkeit sich ihrer selbst bewusst zu werden, ihre
Handlungen bewusst zu planen und sich der Folgen ihrer Handlungen bewusst zu
werden allmählich (noch stärker) abhanden käme. Als biologischer Organismus
muss ein Mensch nur das wahrnehmen und auf das reagieren, was für sein Überleben
und gegebenenfalls auch für seine Reproduktion bedeutsam ist. Und was davon
muss er sich bewusst machen? Nichts! Denn zum nackten Überleben und zur bloßen
Fortpflanzung braucht ein Organismus kein Bewusstsein. Beides funktioniert
nicht nur bei uns von allein – also gänzlich unbewusst – sondern auch bei allen
Tieren bis hinunter zu den Einzellern. Letztere benötigen dazu noch nicht
einmal ein Nervensystem, die Schwämme und Medusen können das auch ohne Gehirn,
und die Tiere ohne das, was wir Bewusstsein nennen. Auch beim Menschen wird
alles, was im Organismus geschieht, und was entweder der Lebenserhaltung oder
der Reproduktion direkt dient, unbewusst gesteuert. Bewusstsein, so scheint es,
ist ein Luxus, den sich nur ein menschliches Gehirn leisten kann. Für alles,
was der Sicherung des eigenen Überlebens und der Reproduktion dient (und womit
das Hirn tagein tagaus beschäftigt ist) braucht es kein Mensch. Vielleicht bedeutet
Mensch-Sein aber auch mehr, als nur lebendig und fortpflanzungsfähig zu sein.
Wenn man das in Betracht zieht, wäre Bewusstsein, also auch die Bewusstwerdung
eigener Handlungsantriebe, Bedürfnisse und Wünsche durchaus etwas Sinnvolles.
Das geht dann allerdings weit über die Biologie hinaus.
Die Genetiker haben
herausgefunden, dass sich der heutige Mensch in seiner genetischen Ausstattung
nicht im Geringsten von seinen vor einhunderttausend Jahren lebenden Vorfahren
unterscheidet. Das muss auch so sein, denn sonst könnten nicht beide Mitglieder
derselben Art ›Homo
sapiens‹ sein. Aber
dasselbe Gehirn wie wir heutzutage hatten unsere frühen Vorfahren mit
Sicherheit noch nicht, denn die haben ihr Hirn damals zeitlebens für ganz
andere Aufgaben benutzt. Dadurch hat es sich zwangsläufig auch anders
strukturiert. Das gilt nicht nur für die Sprachverarbeitung, sondern auch für
viele andere Leistungen und die diesen Leistungen zugrunde liegenden neuronalen
synaptischen Verschaltungen. Sogar noch heute unterscheiden
sich die Hirnleistungen von Menschen unterschiedlicher Kulturen beträchtlich.
Wir Europäer können beispielsweise nur 5 – 6 Zahlen im Kurzzeitgedächtnis
speichern, die Chinesen aber 9, allerdings nur dann, wenn sie unter Chinesen
aufgewachsen sind und die komplizierte chinesische Schriftsprache von ihnen
gelernt haben. Bei uns können viele Erwachsene heutzutage nur noch wenige Grüntöne unterscheiden, die Eingeborenen des amazonischen Regenwaldes haben über 100 verschiedene
Bezeichnungen für über 100 verschiedene Grüntöne.
Wenn also ein solcher Amazonasindianer etwas Grünes betrachtet, dann wird er
das wesentlich bewusster und differenzierter tun, als wir, wenn wir einen
grünen Baum anschauen. Was mag noch vor wenigen Generationen den meisten
Menschen bewusst geworden sein, wenn sie sich gegenseitig ihre
Ahnengeschichten, ihre Sagen und Märchen erzählten? Und was würde diesen
gleichen Menschen wohl bewusst, wenn sie heute mit uns eine Stunde lang durch
eine Großstadt gehen könnten? Es wäre mit Sicherheit weder qualitativ noch
quantitativ mit dem zu vergleichen, was wir dabei bewusst erleben. Wahrscheinlich
würde jemand, der in einer ganz anderen Welt groß geworden ist, durchdrehen,
wenn es ihm nicht gelänge, das meiste von dem, was er dort wahrnimmt, genau
dort zu lassen, wo auch wir es immer dann lassen, wenn uns etwas zu viel wird –
im Unbewussten.
Ins Bewusstsein
kann eine Wahrnehmung oder ein Gedanke, der einem durch den Kopf schießt,
offenbar nur dann kommen, wenn dieses Neue an irgendetwas angeknüpft (mit etwas
assoziiert) werden kann, was bereits vorhanden (als Wissen, als Erfahrung, als ›inneres Bild‹ im Gehirn abgespeichert) ist. Deshalb ist
das, was zwar wahrgenommen und erlebt werden kann, aber dabei nicht ins
Bewusstsein gelangt (und dann eben ›unbewusst‹ bleibt) bei
all jenen Menschen besonders groß, die bisher nur sehr wenig von dem bereits
kennen, was sie in der Welt erleben - also bei kleinen Kindern. Genauso wenig
können neue Wahrnehmungen ins Bewusstsein eines Menschen gelangen, wenn sie für
ihn zu fremd sind, zu plötzlich auftauchen, zu überwältigend oder einfach nur
zu zahlreich sind – also immer dann, wenn sie Furcht auslösend sind und im
Gehirn eine Notfallreaktion in Gang gesetzt wird, die zunächst nichts weiter
als das nackte Überleben sichern hilft. In solchen Situationen ist bewusstes
Reflektieren und langes Nachdenken nicht nur wenig hilfreich, sondern ›hirntechnisch‹ gar nicht möglich.
Die Fähigkeit, sich
das, was man erlebt, auch bewusst zu machen, scheint also eine Leistung zu
sein, die sich erst im Lauf sowohl der phylogenetischen wie auch der
ontogenetischen Entwicklung des Menschen allmählich entwickelt. Es ist eine
Fähigkeit, die das Gehirn gewissermaßen erst dann herausbilden kann, wenn in
den assoziativen Arealen bereits ein einigermaßen tragfähiges Fundament an
Wissen und Erfahrungen verankert werden konnte, und wenn sich die betreffende
Person damit in der Welt einigermaßen angstfrei zu bewegen gelernt hat (dazu
darf sich diese Welt aber auch nicht allzu schnell verändern). Bewusstsein wäre
dann die wiederholt von einem Menschen gemachte und als innere Überzeugung
verankerte Erfahrung, dass er als Person in der Lage ist, seine Wahrnehmungen
und Gedanken aus eigener Kraft und eigenem Antrieb so zu ordnen, dass sie in
die Welt und zu der Welt, auch der Vorstellungswelt passen, in der diese Person
lebt. Da die Welt, in der Menschen leben, Erfahrungen machen und Wissen erwerben,
in erster Linie und von Anbeginn eine Welt sozialer Beziehungen ist, ist davon
auszugehen, dass es ohne Sozialisation kein Bewusstsein gibt, dass also unser
Bewusstsein (wie auch unser hochentwickeltes Gehirn überhaupt) ein soziales
Produkt ist. Deshalb ist Bewusstsein wohl auch etwas, was nur Menschen herausbilden
können. Dazu müssen diese Menschen aber innerhalb einer menschlichen
Gemeinschaft aufwachsen, die ihnen die Möglichkeit bietet, sich als Urheber
ihrer individuellen Vorstellungen und Handlungen zu verstehen.
Damit sind wir bei
der Frage angekommen, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht. Und das
ist wohl die spannendste Frage, die heute überhaupt gestellt werden kann und
die wohl auch irgendwann beantwortet werden muss. Denn davon, wie diese Frage
beantwortet wird, hängt schließlich der künftige Entwicklungsweg ab, den
Menschen einschlagen, jeder für sich allein und wir alle gemeinsam. Der
Verhaltensbiologe und Nobelpreisträger Konrad Lorenz hat uns unsere
gegenwärtige Stellung in der Natur so drastisch wie bisher kaum ein anderer vor
Augen geführt: »Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir« (Lorenz
1973). Bis zum Affen und ein wenig darüber hinaus ging es auch ohne
Bewusstsein. Aber für den Rest des Weges bedarf es offenbar einer bewussten
Entscheidung in Form einer Kulturleistung.